Wieder ein Jahr überlebt

Zum Ende des Jahres blicken die Menschen zurück – sie zählen ihre Erfolge, lecken ihre Wunden und formulieren die obligatorischen Vorsätze für das neue Jahr. Mein Vorsatz 2019: Nicht sterben! Mein Erfolg 2018: Ich habe überlebt! Klar, das klingt unheimlich pathetisch, aber auch diese Gedanken können durch Angst entstehen.

 

Wie gefährlich ist Angst wirklich?

Wenn man nicht selbst an einer Angsterkrankung leidet oder einen geliebten Menschen während einer schlimmen Phase erlebt, kann man die Qualen der Angst kaum nachvollziehen. Bei mir, wie auch bei vielen anderen Betroffenen, kam sie nicht allein. Ich litt durch die dauerhafte Isolation auch unter einer starken Depression und Agoraphobie – also der Angst vor vielen Menschen. Um das nicht mein Leben lang ertragen zu müssen, habe ich in all den Jahren extrem hart an mir gearbeitet. Manchmal so hart, dass selbst mein Psychologe um ein Tempolimit bat. Aber noch immer bin ich der Meinung, dass ich nur so etwas gesünder werden konnte.

Der Einschnitt bleibt

Der Beginn meiner Angst ist nun schon unglaubliche sechs Jahre her und ich kann mittlerweile ohne Psychologen, Medikamente und Selbsthilfegruppen leben. Ich kann täglich das Haus verlassen und auch wieder Freude empfinden. Aber meine Einstellung zum Leben hat sich grundlegend geändert. In meinem Artikel für die Brigitte schrieb ich nach zwei Jahren Angst, dass ich erleichtert bin, die Option des Sterbens zu haben. Und das ist noch heute so – die Jahre der Angst waren ein Kampf. Ein so essenzieller Kampf, dass beinahe nichts mehr danach mir meinem Lebenssinn wiedergeben konnte. So etwas wie eine natürliche Lebenslust gibt es bei mir seitdem nicht mehr. 

Bitte bleib noch ein bisschen

Vorstellbar ist dieser Gedanke sicher für kaum jemanden, der es nicht selbst erlebt hat. Thematisiere ich diesen düsteren Aspekt der Angst mal in einem Gespräch, werde ich nur ungläubig angeschaut. Das ist auch gut so, denn dann hat mein Gegenüber das zum Glück noch nie erlebt. Die Lust auf das Leben wieder zu bekommen, ist unglaublich schwer. Ich habe nie versucht mich umzubringen, aber ich will nicht verheimlichen, dass ich diesen Gedanken hatte. Es ist nicht einfach, weiterzuleben, wenn man seinem Körper und seinem Geist nicht mehr vertrauen kann, wenn man keinen Tag ohne Schmerzen erlebt und nicht weiß, wann und ob es wieder besser werden könnte.

Ich bin in dieser Zeit nur nicht gegangen, weil ich darum gebeten wurde. Gleichermaßen hat diese Person aber auch gesagt, dass sie es verstehen kann, wenn ich aufgeben möchte. Das bricht mir bis heute das Herz und war mit Abstand einer der schlimmsten und entscheidendsten Momente meiner Erkrankung. Ich habe beschlossen, noch eine Weile zu bleiben und immer die Option des Gehens im Hinterkopf zu behalten.

Weiter bis zum Schluss – wann auch immer der ist

Aus der Weile sind mittlerweile ein paar Jahre geworden und ich bereue nicht, dass ich geblieben bin. Aber ich würde lügen, wenn ich nicht diese gewisse Option immer im Hinterkopf hätte. Keine Ahnung, ob das jemals anders sein wird. Immer wieder stelle ich mir die Frage: Würdest du gehen, wenn du genau jetzt die Möglichkeit hättest und niemand darunter leiden müsste?

Unzählige Male habe ich diese Frage mit einem klaren Ja beantwortet, auch wenn ich am Ende nie gegangen bin. Im letzten Jahr habe ich sie erstmals auch immer wieder mit einem Nein beantwortet. Und das ist doch schon was! Vielleicht bekomme ich ja doch wieder eine Art Selbsterhaltungstrieb.

2018 hat wieder Menschen geopfert, die an der Angst gescheitert sind. Ihr Tod wirft mich immer wieder aus der Bahn. Er zeigt mir meine Optionen auf und verbindet mich mit Menschen, die ich nicht einmal persönlich kenne.

Ich habe 2018 – dieses nicht einfache Jahr – überlebt und habe diesen Plan auch 2019.

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